Es gibt Konzerte, die man erlebt und nach ein paar Tagen wieder vergisst. Und dann gibt es diese Abende, die sich in dein Gedächtnis brennen, weil sie dich mitten ins Herz treffen. Das Konzert von Pierce The Veil am 2. Oktober 2025 in der Mitsubishi Electric Halle in Düsseldorf war genau so ein Erlebnis – intensiv, emotional, kathartisch. Ich hatte mich seit Monaten darauf gefreut, und als ich schließlich in der Menge stand, zwischen alten Emo-Seelen und der neuen Generation von Fans, wusste ich: Das wird kein gewöhnlicher Abend.
Schon beim Betreten der Halle lag eine elektrische Spannung in der Luft. Überall schwarze Outfits, Eyeliner, Bandshirts – eine Reunion von Menschen, die in dieser Musik ein Stück von sich selbst wiederfinden.
Den Anfang des Abends machten Crawlers, eine britische Band, die man wohl am besten als Mischung aus Alternative-Rock und dunklem Indie beschreiben könnte. Frontfrau Holly Minto betrat die Bühne mit dieser typischen, unaufgeregten Selbstsicherheit, die sofort alle Blicke auf sich zog. Ihr Gesang – mal rau, mal zart – füllte die Halle mit einer unterschwelligen Spannung. Besonders beeindruckend war, wie mühelos sie zwischen verletzlicher Intimität und purer Energie wechselte. Stücke wie “Come Over (Again)” oder “That Time of Year Always” sorgten für erste Gänsehautmomente, auch wenn viele im Publikum die Band zum ersten Mal hörten.
Es war kein lauter, sondern ein stiller Beginn – fast so, als ob Crawlers die Bühne segneten, bevor das Chaos losbrechen durfte. Für mich war das die perfekte Einstimmung: ehrlich, atmosphärisch, ein bisschen düster – ein Vorgeschmack auf das emotionale Spektrum, das uns an diesem Abend noch erwartete.
Dann wurde es laut – richtig laut. Hot Mulligan aus Michigan übernahmen die Bühne mit einer Energie, die sofort übersprang. Schon nach dem ersten Song war klar: Diese Jungs sind gekommen, um die Halle auf Betriebstemperatur zu bringen. Ihr Sound ist eine explosive Mischung aus Midwest-Emo, Pop-Punk und Post-Hardcore – chaotisch, aber präzise. Besonders Sänger Tades Sanville war eine Wucht: Er schrie, lachte, rannte, machte Witze („In Deutschland klingt ‘Pierce’ wie ‘Piss’, also heißt ihr jetzt ‘Piss The Veil’!“) und schien das Publikum in Sekundenschnelle für sich zu gewinnen. Songs wie “Equip Sunglasses”, “Shhhh! Golf is On” und “Drink Milk and Run” sorgten für erste Moshpits – und für viele überraschte Gesichter, die offensichtlich nicht mit dieser Intensität gerechnet hatten. Hot Mulligan waren laut, roh und ehrlich – das perfekte Gegenstück zu den feinen Nuancen von Crawlers. Sie weckten uns auf, rüttelten uns wach – und ließen die Halle vibrieren.
Nach dem Sturm kam die Stille – und sie war wunderschön. Cavetown, das Projekt des britischen Songwriters Robbie Skinner, brachte einen fast schon magischen Moment in diesen Abend. Zwischen den lauten, energiegeladenen Sets wirkte seine Musik wie ein tiefes Atemholen. Songs wie “Home”, “Boys Will Be Bugs” und “Deviltown” schwebten förmlich durch die Luft, begleitet von sanftem Gitarrenspiel und melancholischen Melodien. Das Publikum lauschte andächtig – manche saßen sogar kurz auf dem Boden, um einfach zu fühlen.
Ein besonderer Gänsehautmoment: Als Vic Fuentes für das Duett “A Kind Thing To Do” auf die Bühne kam. Der Applaus war ohrenbetäubend – und plötzlich wurde klar, dass dieser Abend mehr als nur eine Konzertreihe war. Es war ein emotionaler Bogen.
Cavetown bot die Ruhe, die man brauchte, bevor Pierce The Veil alles in Flammen setzte – sanft, ehrlich und auf eine ganz eigene Art bewegend.
Als das Licht langsam erlosch und die ersten Töne von „El Rey“ erklangen, dieser ikonischen mexikanischen Hymne von Vicente Fernández, ging ein Raunen durch die Menge. Ein kurzer Gruß an Vics Wurzeln – stolz, melancholisch, aufrichtig. Und dann: Dunkelheit. Ein Schrei. Das Intro von „Death of an Executioner“ setzte ein – und Düsseldorf explodierte.
Schon nach wenigen Sekunden war klar: Pierce The Veil sind nicht nur zurück, sie sind auf einem neuen Level. Vic Fuentes, Mike Fuentes, Jaime Preciado und Tony Perry spielten mit einer Präzision, die man selten in diesem Genre erlebt. Der Sound war glasklar, jede Gitarrenlinie messerscharf, Vics Stimme stärker und gefühlvoller denn je.
Bei „Bulls in the Bronx“ brach dann endgültig alles los. Dieser unverwechselbare Mix aus rasanten Gitarrenriffs, spanisch angehauchten Melodien und emotionalem Chaos katapultierte die Halle in einen kollektiven Rauschzustand. Um mich herum wurde geschrien, geweint, getanzt – genau diese Energie, diese völlige Hingabe, ist es, warum ich diese Band so liebe.
Mit „Pass the Nirvana“ legte die Band noch eine Schippe drauf. Dieser Song hat live eine wuchtige, fast körperliche Präsenz. Der Bass dröhnte in der Brust, die Strobo-Lichter zuckten, und Vic schrie sich die Seele aus dem Leib. Es fühlte sich an, als würde sich all die angestaute Wut und Freude der letzten Jahre in diesem Moment entladen.
Besonders emotional wurde es für mich mit „I’m Low on Gas and You Need a Jacket“ – einem Song, der mich seit über zehn Jahren begleitet. Die melancholische Melodie, die bittersüßen Lyrics – live bekam er eine neue Tiefe. Man konnte sehen, wie viele im Publikum die Zeilen mitsangen, die Augen geschlossen, als würde die Musik sie tragen.
Dann die erste Überraschung des Abends: Ein Pixies-Cover – „Where Is My Mind?“. Zunächst schien das Publikum kurz irritiert, doch schon beim ersten Refrain sang die ganze Halle mit. Eine geniale Wahl, die zeigte, dass Pierce The Veil weit über die Grenzen des Post-Hardcore hinausdenken.
Die Setlist war eine Reise durch die Bandgeschichte. „Floral & Fading“ brachte eine fast träumerische Stimmung in den Raum, bevor „Yeah Boy and Doll Face“ die alten Zeiten wieder aufleben ließ. Ich musste lächeln – plötzlich fühlte ich mich wieder wie 20, mit zu viel Kajal und Herzklopfen, irgendwo zwischen Wut und Liebe.
Und dann dieser Moment: „She Makes Dirty Words Sound Pretty“ – Vics Stimme brüchig, ehrlich, verletzlich. Ich hatte Gänsehaut. Das Zusammenspiel von Band und Publikum war magisch, fast intim, obwohl Tausende Menschen da waren.
Der Übergang in „Hell Above“ war brachial. Gitarren, Licht, Energie – alles verschmolz zu einem einzigen, donnernden Klang. Die Halle bebte, und ich war einfach nur dankbar, Teil davon zu sein. Danach folgten „So Far So Fake“ und „Emergency Contact“, beide emotionaler als auf Platte. Besonders „Emergency Contact“ war ein Gänsehautmoment – die ganze Halle in Handylichtern getaucht, Vic mit geschlossenen Augen am Mikrofon, und plötzlich war alles still, bevor Tausende Stimmen den Refrain sangen.
Mit „Circles“ verabschiedete sich die Band erstmals von der Bühne. Es war dieser typische Cliffhanger-Moment – niemand glaubte, dass es vorbei war. Und natürlich: Niemand bewegte sich.
Als die Band zurückkam, brandete eine Welle der Erleichterung und Begeisterung durch die Menge. „Disasterology“ ließ die älteren Fans in Erinnerungen schwelgen, während die Jüngeren erstaunt feststellten, wie roh und wild die frühen Songs der Band klingen können.
Dann folgte „Hold On Till May“ – einer dieser Songs, die man nicht einfach hört, sondern fühlt. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn schon gehört habe, aber live ist er jedes Mal wie eine Umarmung. Vic widmete den Song allen, „die jemals dachten, sie schaffen es nicht – und trotzdem hier sind.“ Da hatte er mich. Da hatte er uns alle.
Und dann – der Moment, auf den alle gewartet hatten: „King for a Day“. Schon beim ersten Akkord verwandelte sich die Halle in ein einziges Inferno aus Schreien, Springen, Mitsingen. Der Boden vibrierte, die Lichter zuckten, und als Vic den Refrain anstimmte, sang buchstäblich jede einzelne Person mit. Es war chaotisch, laut, perfekt. Genau so muss ein Finale aussehen.
Als die letzten Töne verklangen, blieb ich einfach stehen. Verschwitzt, heiser, überwältigt. Ich habe Pierce The Veil schon mehrmals live gesehen – aber so stark, so fokussiert, so emotional wie in Düsseldorf habe ich sie noch nie erlebt.
Es war mehr als nur ein Konzert. Es war ein Statement. Nach über 15 Jahren Bandgeschichte beweisen Vic Fuentes und seine Jungs, dass sie nichts von ihrer Relevanz verloren haben – im Gegenteil: Sie klingen besser, ehrlicher, lebendiger als je zuvor.
Die Setlist war ein Liebesbrief an die Fans – tiefgründig, abwechslungsreich und mutig genug, auch mal auf Klassiker wie „Bulletproof Love“ oder „Caraphernelia“ zu verzichten. Die Bühne, das Licht, die Energie – alles passte. Doch am Ende war es vor allem dieses Gefühl, das blieb: Dankbarkeit.
Dankbarkeit dafür, dass es diese Band gibt. Dafür, dass Musik uns alle verbindet. Dafür, dass wir, egal wie alt wir inzwischen sind, an einem Abend wie diesem wieder zu den Kids werden, die alles fühlen – laut, ehrlich, grenzenlos.
Pierce The Veil in Düsseldorf war nicht nur ein Konzert. Es war eine Erinnerung daran, warum wir überhaupt Musik lieben.
Und als ich später, halb taub, halb selig, durch die kühle Oktoberluft nach Hause ging, wusste ich: Diese Nacht werde ich nie vergessen.